Demenziell veränderte Senioren wechseln beim Theaterprojekt in Wadersloh ihre Rolle
„So, jetzt haltet Euch fest! Gleich geht es in eine starke Kurve“, sagt Anni Bröcher. Die 93-jährige hält das Lenkrad des Busses in der Hand, mit der die Gruppe aus dem Seniorenheim Haus St. Josef in Wadersloh zum Bauernhof fährt. „Oh, das ruckelt aber“, meint Max. „Das sind die Feldwege. Aber jetzt sind wir da!“, sagt die Fahrerin. Dann stellt sie den Motor aus. Angekommen.
Die rasante Autofahrt findet nicht in freier Natur statt – sondern im Rahmen eines außergewöhnlichen Theaterprojektes mit Bewohnern und Mitarbeitern des Hauses. Die zwölf Teilnehmerinnen und Teilnehmer sitzen mit zwei Altenpflegerinnen in einem großen Kreis und lassen sich von zwei Theaterpädagoginnen Rahel Kurpat und Jessica Höing vier Tage nacheinander in andere Welten entführen. „Auf dem Land“ heißt das Thema der Projektwoche, in der auch gekocht, getanzt und gesungen wird. Diese Gruppe aber bereitet sich schon einmal auf die abschließende Theatervorführung am Freitagnachmittag vor. Da sollen sie mitmachen. Und es klappt jeden Tag besser.
„Ich bin ganz begeistert, wie unsere Bewohnerinnen und Bewohner aus sich herauskommen. Am Anfang haben sie überwiegend zugehört. Aber von Tag zu Tag reden sie immer mehr“, beobachtet Dana Grötzner. Die examinierte Altenpflegerin kennt Anni, Max und die anderen aus dem Alltag. In der Theatergruppe aber wirken sie zum Teil wie befreit.
„Genau das ist es, was wir erreichen wollen“, bestätigt Rahel Kurpat. Die Theaterpädagogin vermittelt sonst vor allem Ärzten am Uniklinikum in Münster Kommunikationskompetenz im Umgang mit ihren Patienten. Aber nebenberuflich versucht sie mit dem Theaterkollektiv „art + weise“ Kinder, Erwachsene und alte Menschen in verschiedenen Projekten dazu zu bringen, in eine andere Realität einzutauchen – „und sei nur für ein paar Augenblicke.“ Jessica Höhn entwickelt mit dem Theater „Demenzionen“ in Köln vor allem Projekte mit älteren Menschen.
„Diese Gruppe hier ist besonders schwierig. Denn bei vielen Senioren ist die Demenz schon weit fortgeschritten“, gibt Rahel Kurpat zu. Und dennoch beobachtet auch sie erstaunt, was sich entwickelt. „Einige von ihnen erkennen Dinge wieder. Zum Beispiel das kleine Stoff-Schwein, das zur Begrüßung herumgegeben wird.“
Gisela zieht es in der Nachmittagsrunde als erste aus dem Sack und untersucht es aufmerksam. „Oh, was ist denn das für ein Tier?“ Die 71-Jährige kann sich nicht erinnern. Aber Anni neben ihr meint sofort: „Ach, guck‘ mal. Das ist doch Rosa.“ Jessica Höing weiß: „Irgendwie fangen wir immer wieder von vorne an. Und doch geht es weiter.“
So lernen die Seniorinnen und Senioren im Laufe der Tage auch wieder zu abstrahieren. „Am Anfang jeder Runde verwenden wir Requisiten. Sie sind ein guter Impuls, einzusteigen. Sie wecken Erinnerungen“, erklärt Rahel Kurpat. So wird nach der Ankunft auf dem Bauernhof ein alter Eimer herumgegeben, mit dem die Pferde getränkt werden sollen. Sie Senioren nehmen ihn, rütteln ihn, ziehen ihn wieder zurück, imitieren sogar das Wiehern der Tiere. Doch die Pferde haben soviel Durst, dass ein zweiter Eimer benötigt wird. Der ist nicht vorhanden. Also greift die Theaterpädagogin in die Luft und tut so, als hätte sei einen in zweiten in der Hand. „Anni, nimmst Du mal?“, fragt Rahel Kurpat ihre Nachbarin. Die ist zunächst irritiert, macht das Spiel aber mit.
Auf diese Weise können Gegenstände sogar ihre Bedeutung verändern. „Oh, Du möchtest mir etwas schenken? Das ist aber nett. Aber ich habe doch gar nicht Geburtstag“, sagt Jessica Höhn. „Da ist ja auch gar nichts drin“, meint Hildegard neben ihr. Die Pädagogin faltet das Tuch auseinander: „Doch, da ist Schokolade. Die ist aber lecker.“ Sie lächelt Hildegard an. Die Seniorin lacht und fragt: „Bekomme ich denn auch ein Stück?“
„Was muss denn noch auf dem Bauernhof gemacht werden?“, fragt Rahel Kurhat. Die Senioren malen sich in ihren Gedanken immer mehr die Umgebung aus. Und sie werden selbst aktiv. Schließlich meint Hildegard: „Wir müssen die Hühner füttern. Das habe ich früher bei meinem Onkel auch immer gemacht.“ Jessica Höhn bringt eine Schale in den Umlauf. Mit einer weiten Handbewegung simulieren die Senioren das Ausstreuen der Körner. Sie lachen dabei.
Nur Helmi will nicht: „Ich mag keine Hühner. Ich mag sie nur gebraten.“ Und auf einmal entwickelt sich ein Dialog mit den anderen. Anni entgegnet: „Aber dann musst Du sie erst einmal füttern. Sonst werden die ja nix. Dann kannst Du sie auch nicht braten.“ Helmi bleibt dabei: „Ich füttere die nicht.“
Rahel Kurpat fragt: „Habt Ihr früher auch schon mal Hühner geschlachtet?“ Die meisten nicken. Die zweite Anni in der Runde erinnert sich: „Klar. Zuerst wurde ihnen der Kopf abgehackt. Und dann haben wir sie ins heiße Wasser gelegt. So konnte man sie besser pflücken.“
Der Bauernhof wird immer bunter und lebendiger. Schließlich fragt Max nach einem Schnaps. Den gibt es, aber natürlich nur virtuell. Und die Senioren stimmen ein Lied nach dem anderen an: „Ein Prosit der Gemütlichkeit“ oder „Trink, trink, Brüderlein trink“ – beide Strophen. „Gib noch einen“, sagt Max. Und fügt hinzu: „Schnaps ist gut für die Cholera.“
Dana Grötzner kann nur staunen: „Unglaublich, was die alle für Trinksprüche haben. Das kenne wir jungen Leute heute nicht mehr.“ Und noch etwas fragen sich die Altenpflegerinnen genauso wie die beiden Theaterpädagoginnen: Welche Lieder gibt es eigentlich, die wir mal alle mitsingen können, wenn wir alt sind?
So herausfordernd der Umgang mit demenziell veränderten Menschen in einem Seniorenheim auch sein mag: „Manchmal“, sagt Dana – „kann man über sie nur staunen.“ Bei diesem Theaterprojekt passiert das jedenfalls.